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Dokumentation  des äthiopisch-eritreischen Grenzkrieges

Tagebuch eines unerwarteten Krieges

von Toni Locher

Liebe Freundinnen und Freunde

Wie soll ich Euch das Unerwartete und Unfaßbare mitteilen und erklären, dass wieder Krieg herrscht zwischen Äthiopien und Eritrea? Ich versuche es mit einem Bericht von einer Reise nach Eritrea (vom 17. bis 31. Mai 1998). Ich berichte Euch von Gegenden und Orten, um die es beim Grenzkonflikt geht, von unseren Freunden in Eritrea, die in grosser Sorge sind und auch von der Besonnenheit, die ich in Eritrea angesichts der Kriegsgefahr angetroffen habe.

In den Reisebericht habe ich Hintergründe, Analysen und Fakten zum Konflikt mit Äthiopien eingebaut. Ein zweiter Teil beschreibt die Eskalation des Konflikts zum Krieg im Juni bis zum Waffenstillstand im Juli 1998.

Donnerstag, 14. Mai 1998
Wir packen die Koffer für unsere traditionelle Mai-Reise nach Eritrea. Der Lufthansa-Flug ist schon lange gebucht. Die Flüge der Lufthansa sind bis in den Sommer ausgebucht; bald beginnt die grosse Sommer-Reisewelle der Exil-Eritreer in ihre Heimat. Die Alitalia plant Charterflüge nach Asmara, die Lufthansa will im Sommer ihre Flüge von drei auf vier pro Woche ausweiten. Wir hören, dass die "Ethiopian-Airlines" heute ihre Flüge nach Asmara eingestellt hat. Was hat das zu bedeuten? Wir sind nicht besonders beunruhigt und freuen uns auf die Reise nach Eritrea.

Sonntag, 17. Mai 1998
Ankunft in Asmara, die Stadt ist völlig friedlich, trotzdem sprechen alle vom Grenzkonflikt mit Äthiopien. Immer wieder fällt der Begriff "Bad'me". Während in der Aussenwelt noch kaum jemand diesen Ort kennt, ist er hier in aller Munde: am 6. Mai wurde dort, im westlichen Tiefland Eritreas, dem Gebiet zwischen dem Mereb-Fluss und dem Setit-Fluss eine Gruppe von Soldaten und Offizieren der eritreischen Armee von äthiopischen Armee-Einheiten angegriffen, getötet oder verwundet. Die Gruppe war auf dem Weg zu Verhandlungen mit der äthiopischen Seite. An diesem gleichen Mittwoch war auch eine eritreische Delegation auf dem Weg nach Addis-Abeba, um an einem Treffen der Joint Border Commission teilzunehmen, die von beiden Regierungen vor einiger Zeit geschaffen wurde, um Grenzdispute zu klären und zu lösen.

Der äthiopische Angriff vom 6. Mai war der Beginn der Eskalation. Eritrea reagierte, indem es die umstrittenen - und seiner Ansicht laut den kolonialen Grenzen klar zu Eritrea gehörenden - Gebiete im Yigra-Dreieck, bei Zalambesa und Alitena unter seine Kontrolle brachte. Dies wiederum bezeichnete Äthiopien als "Aggression" und erklärte in einer Botschaft des Ministerrats Eritrea de facto den Krieg (Mobilmachung, Einstellung der Flüge der Ethiopian Airlines nach Asmara, Umleitung aller Schiffe, die unterwegs nach Massawa oder Assab waren, nach Djibouti und Berbera/Somaliland, Reduktion der Telefonverbindungen nach Eritrea, Ausweisung des eritreischen Botschaftspersonals aus Addis Abeba, ökonomische Blockade Assabs). Am 14. Mai antwortete der Ministerrat der eritreischen Regierung mit einem Aufruf, den Grenzkonflikt mit friedlichen Mitteln und durch direkte Verhandlungen zu lösen, wobei eine dritte Partei an den Verhandlungen teilnehmen solle und Experten die Grenzen verbindlich festlegen sollten. Um die Lage zu entspannen, sollten die umstrittenen Gebiete an der Grenze entmilitarisiert werden. Falls es zwischen Eritrea und Äthiopien nicht zu einer Einigung kommen werde, solle der internationale Gerichtshof in Den Haag eingeschaltet werden.

Montag, 18. Mai 1998
Alle Geschäfte in Asmara sind geöffnet. Wir kaufen ein für unsere Reise in die Danakil-Wüste. Auch die Büros der Regierung arbeiten normal. Wir wollen uns in Massawa noch genau über die Lage im Danakil orientieren.

Dienstag, 19. Mai 1998
Wir fahren zum Ministry of Marine Resources, um uns über die Situation im Danakil zu erkundigen. Es sei alles ruhig, wir könnten ohne Probleme Richtung Assab fahren. Kurz vor Irraffaele, am Golf von Zula, gräbt sich unser Toyota-Landcruiser in den Sand ein. Ferec, unser Guide, Fahrer und Freund, der den Danakil sehr gut kennt, erklärt uns den Grund fürs Einsinken. In den letzten Wochen sind sehr viele Lastwagen unterwegs nach Assab, weil die Hafenstadt wegen der Blockade durch Äthiopien auf dem Luftweg von Asmara und auf dem Schiffs- oder Landweg von Massawa aus versorgt werden muss. Daher sind die Sandpisten nach Assab durch die schweren Lastwagen völlig ausgegraben.

Mittwoch, 20. Mai 1998
Ferec will mit uns nach Bada fahren, einem Ort im Innern des Danakil am Rande der Danakil-Senke, einem der heissesten Gebiete der Erde. Hier wurde während der italienischen Kolonialzeit und später von den USA Pottasche abgebaut, via eine kleine Eisenbahn nach Marsa Fatuma am Roten Meer gebracht und dort auf Schiffe verladen. Die Gegend wird immer einsamer, tiefe Lastwagenspuren führen nach Bada. Um nicht erneut einzusinken und dann wahrscheinlich für Tage steckenzubleiben, kehren wir kurz vor Bada um. Erst am nächsten Tag erfahren wir, dass es in Bada zu Kämpfen zwischen äthiopischen Einheiten und eritreischen Verteidigern gekommen ist. Ferec meint, für die TPLF (Tigray People's Liberation Front) wäre es ideal, von Bada aus einen Zugang zum Roten Meer zu erobern und sich damit den Traum vom "Greater Tigray" zu realisieren.

Donnerstag, 21. Mai 1998
Wir fahren ohne Zwischenfälle zurück nach Massawa. Am Strand des Hamasien Beach Hotel feiert eine Abschlussklasse aus Massawa das Ende des Schuljahres. Die Stadt ist trotz der Hitze sehr geschäftig. Ueberall wird gebaut. Mit koreanischer Hilfe entsteht eine grosse Wohnsiedlung und ein neues Gebäude für die Hafen-Verwaltung von Massawa. Ganz Massawa ist mit Fahnen geschmückt, die Feierlichkeiten werden vorbereitet. Wir gehen nochmals ins Ministerium: inzwischen ist Haile nach Assab abgereist, es heisst, "er habe dort zu tun". Ich frage nach, ob die Eritreer einen Angriff auf Assab erwarten. Petros Solomon, der Fischerei-Minister, den ich auf dem Flur treffe, winkt ab. Es sei alles friedlich, die Äthiopier seien ja wohl nicht so verrückt, Assab anzugreifen. Es gelte aber, Assab gut zu versorgen und sich auf alle Eventualitäten vorzubereiten.

Sonntag, 24. Mai 1998
Feierlichkeiten zum Jahrestag der Unabhängigkeit Eritreas: die Feststimmung ist etwas gedämpft, man sieht auf den Gesichtern der Tausenden von Menschen, die aus Mendefera und Umgebung ins Stadion strömen, den Ernst und die Sorgen. Vizegouverneur Semere orientiert in klaren und ruhigen Worten über die aktuelle Situation an der Grenze. Zur etwa gleichen Zeit hält Präsident Issayas Afeworki seine kurze Festrede im Fussballstadion von Asmara, wo er nur am Rande auf den Konflikt mit Äthiopien eingeht, weil es für ihn immer noch ein Grenzdisput, "ein Konflikt am Rande" ist.

Am Abend sitzen wir im Hause von Saba und diskutieren mit Paolos. Zwischendurch schauen wir uns das Programm des äthiopischen Fernsehens aus Tigray an. Paolos kennt einige der alten TPLF-Genossen, die jetzt da am Fernsehen Kriegshetze betreiben, von früher, als die EPLF die TPLF unterstützte und trainierte (1975 bis 1976 und 1979 bis 1983). Er erinnert sich an die späteren ideologischen Debatten (1985), als die TPLF - inzwischen zu Bewunderern des maoistischen Albaniens unter Enver Hodscha geworden - die EPLF zu überzeugen versuchte, die Sowjetunion als sozial-imperialistisch zu verurteilen. Die EPLF hatte damals Wichtigeres zu tun, die TPLF driftete immer mehr ins Sektierertum ab. Erst als die EPLF 1990 Massawa befreite, und die Mengistu-Armee in Eritrea in grosse Bedrängnis kam, wurden die ideologischen Differenzen begraben und eine militärische Zusammenarbeit wieder aufgenommen, die schließlich zum Sturz Mengistus durch die EPLF und der TPLF vor genau 7 Jahren, am 24. Mai 1991 führt. Sind diese ideologischen Unterschiede wieder aufgebrochen? Paolos erzählt uns vom letzten TPLF-Kongress, als Melles Zenawi, unterdessen vom Guerillaführer zum äthiopischen Premierminister und Staatsmann gewandelt, erst nach ernsten Aufrufen zur Einheit wieder als TPLF-Vorsitzender gewählt wurde. Sind interne Differenzen zwischen der äthiopischen Zentralregierung im fernen Addis Abeba und der relativ autonomen, nationalistischen TPLF-Führung in Mekelle ein Grund für die Eskalation des Konflikts? Hat Melles Zenawi seine TPLF-Regionalfürsten nicht mehr unter Kontrolle, welche sich ein größeres, stärkeres Tigray wünschen?

1997 hatte die Regionalregierung von Tigray eine neue Provinzkarte drucken lassen, auf der sie ein "Greater Tigray" mit Grenzkorrekturen zu Lasten Eritreas und anderer äthiopischer Regionen schuf. Im Juli 1997 ließ sie der Karte Taten folgen, besetzte die beanspruchten Gebiete, vertrieb die lokalen eritreischen Behörden und requirierte die Ernte der eritreischen Bauern (quasi als Steuerabgaben). Darauf protestierten die eritreischen Bauern in Asmara, "was denn das für eine Regierung sei, die sie nicht vor solchen Übergriffen schützen würde". Am 16. und 25. August 1997 schrieb Issayas Afeworki an Melles Zenawi und die Joint Border Commission wurde reaktiviert. Zunächst schien sich die Situation zu beruhigen, weil Eritrea sehr gelassen auf die äthiopische Grenzprovokation reagierte.

Am 12. November 1997 führte Eritrea die eigene Währung, den Nakfa ein, zur großen Freude der Bevölkerung. Die Freude Äthiopiens war weniger groß. Abgesehen von kontrovers diskutierten ökonomischen Folgen wurde es für beide Länder klar, dass eine Rückkehr Eritreas in den Schoß Äthiopiens nicht mehr in Frage kam. Die nur provisorisch zugedeckte, aber nicht verheilte Wunde Äthiopiens (das Trauma vom Verlust seiner "Provinz Eritrea") wurde vor allem für die Amharen wieder aufgerissen. Äthiopien druckte postwendend neue Birrs und zwar mit einer Landkarte, die die umstrittenen Gebiete als äthiopisches Gebiet einzeichnete. Der Handel zwischen Eritrea und Äthiopien kam fast vollständig zum Erliegen, die Spannung wuchs.

Trotzdem erwartete niemand in Eritrea, auch nicht nach den militärischen Auseinandersetzungen an der Grenze in der ersten Maihälfte, dass die äthiopische Luftwaffe am 5. Juni 98 Asmara bombardieren würde.

Zwischen den Gesprächen mit Paolos schauen wir uns die Bilder des äthiopischen Fernsehens ETV aus Tigray an: lokale Milizen, die Schwerter und Kalaschnikows schwingend, skandieren Kriegsparolen gegen Eritrea, aufgehetzt durch Einpeitscher der lokalen TPLF-Parteiorganisation. Es erinnert uns sehr an Mengistus Zeiten, als die großen Bauernmärsche gegen Eritrea vorbereitet wurden. In dieser Nacht schlafe ich schlecht, zu sehr werden die Bilder der sechs äthiopischen Offensiven gegen die befreiten Gebiete Eritreas zwischen 1978 und 1986 in mir lebendig.

Montag, 25. Mai 1998
In der neuen Schule im Klosterdorf Debresina, die von der Arbeitsgruppe Rümlang Dritte Welt und dem SUKE finanziert wurde, referiert der Geschichtslehrer über die Berliner Konferenz und die koloniale Grenzziehung in Afrika. "Wir in Eritrea" sagt er zu den Schülern, "kennen nur die kolonialen Grenzen, unser Land in den heutigen Grenzen ist ein Produkt der italienischen Kolonialzeit. Die Grenzen wurden zwischen Kaiser Menelik II. von Äthiopien und König Umberto I. von Italien am 10. Juni 1900 ausgehandelt und in mehreren Protokollen später leicht verändert......".

Hier in Debresina gibt es kein Fernsehen, kein ETV, hier hört man das Kriegsgeschrei aus Tigray nicht. Es ist ein friedliches Dorf, das schönste Bergdorf Eritreas. Hier oben hat man nur Angst vor den äthiopischen Kampfflugzeugen und Helikoptern, die zu Mengistus Zeiten schon einmal die neue Klosterkirche bombardiert haben.

Dienstag, 26. Mai 1998
Als wir von Keren nach Hagas - im westlichen Tiefland Eritreas - fahren, kommen uns Lastwagen mit wieder mobilisierten Kämpferinnen und Kämpfern entgegen. Sie fahren an die lange Südgrenze zu Äthiopien. Dass sich die Eritreer von ihrem kleinen Land nichts abzwacken lassen wollen, dass sie Assab nicht einfach so aufgeben, das wird aus allen Gesprächen klar, die wir im Hochland und im Tiefland führten. Sogar in Ghilalo, bei den eritreischen Afars, an deren Loyalität zum unabhängigen Eritrea immer wieder gezweifelt wird, hören wir die gleiche Ansicht.

Freitag, 29. Mai 1998
Treffen mit alten Freunden in Asmara: Niemand denkt wohl daran, dass er/sie wieder an die Front gehen müsste, um Kriegschirurgie zu betreiben. Dehab Faitinga, die berühmte Kunamasängerin erzählt von ihren neuen Liedern, die sie im Sommer an den Eritreafestivals von Milano und Frankfurt singen möchte. Über ihre Heimat, das Kunamaland, das vom aktuellen Grenzkonflikt besonders betroffen ist, steht im Vertrag von 10. Juni 1900 folgender Satz: "die Linie vom Maiteb/Setit-Fluss nach Mai-Ambessa/Mehreb-Fluss soll durch die italienischen und äthiopischen Delegierten so festgelegt werden, dass der Stamm der Kunamas zu Eritrea gehört" (Anhang zum Vertrag).

Samstag, 30. Mai 1998
Kurz vor dem Rückflug mit der Lufthansa schauen wir uns am eritreischen Fernsehen die Rede von Präsident Issayas Afeworki an. Mit ruhiger, gelassener Stimme nimmt er ausführlich zum Konflikt Stellung, legt die historischen Fakten und die Gründe des Konflikts dar. "Schaut Euch das äthiopische Fernsehen an und bildet Euch selber ein Urteil ñ ist es das, was wir wirklich brauchen, einen neuen Krieg? Waren die dreissig Jahre nicht genug?" Issayas erklärt und beruhigt, ruft zu Gelassenheit auf und zur Selbstverteidigung und immer wieder auch zur Selfreliance in diesen Zeiten der ökonomischen Isolation.

Saba die bekannte eritreische Unternehmerin weiss aus eigener Erfahrung, wovon der Präsident spricht. Sie hat vor kurzem erst die drittgrösste Textilfabrik Eritreas, die "Mereb Textile Factory" gekauft, muss einen grossen Teil der alten Maschinen ersetzen und will viel investieren. Das kann sie nur, wenn sie auch exportieren kann. Sie sucht sich jetzt einen Markt in Uganda, Ruanda und Kongo/Zaire, seit der Handel mit Äthiopien sehr schwierig geworden ist. Und in ihrem Frauenhaushalt bäckt Ma'asa das Ingera nicht mehr mit Teff, dem aus Äthiopien stammenden traditionellen Getreide, sondern hilft sich mit Mais und Durrahirse aus. Mais-Ingera schmecke sogar besser, aber es sei schon eine grosse Umstellung. Die amharischen Bauern in Gondar bleiben auf ihrem Teff sitzen und ärgern sich über die Tigrays, die ihnen das eingebrockt haben. Saba meint, dass Äthiopien als Zentralstaat an dem Konflikt auseinanderbrechen werde.

Freitag, 5. Juni 1998
Wir sind erst 5 Tage zuhause, da kommt die Hiobsbotschaft aus Asmara: es ist wieder Krieg in Eritrea. Äthiopische MIG's 23 bombardieren die Hangars im südlichen Teil des Flughafens von Asmara. Dort vermuten sie die MIG's der eritreischen Air-Force (die eritreische Armee hat ein paar sowjetische MIG's aus Mengistus Beständen überwintert und vor kurzem wieder flugtüchtig gemacht). Die eritreischen Flugzeuge werden nicht getroffen, dafür gibt es zivile Opfer und einen Schock in Asmara. Dass seit 7 Jahren keine äthiopischen MIG's mehr blitzschnell am Himmel auftauchten und ihre Bomben abwarfen, das war für die meisten Menschen in Eritrea der Inbegriff von Frieden.

Die eritreische Luftwaffe fliegt einen Vergeltungsangriff auf vermutete militärische Ziele in Mekelle, der Hauptstadt Tigrays und zerstört mehrere äthiopische MIGs. Auch gibt es Opfer unter den Zivilisten. Doch statt der Trauer um die wirklichen Opfer auf beiden Seiten, rollte jetzt eine gewaltige äthiopische Propagandalawine an. Auf CNN und BBC, ARD und DRS verkauft sich die äthiopische Regierung als Opfer der "Aggression" Eritreas. Das grosße Äthiopien wurde vom kleinen Zwerg Eritrea angegriffen - das ist ja auch sehr einleuchtend, wenn man die Kräfteverhältnisse anschaut. Die äthiopische Propagandaabteilung - bestens in Kriegspropaganda geschult zu DDR's Zeiten - verkauft sich gut, ein Täter wandelt sich zum Opfer. Während die westlichen Länder - USA, Deutschland, Italien - ihre Staatsangehörigen in einer konzentrierten Aktion aus Asmara evakuieren, wird aus Addis Abeba niemand evakuiert. So eindeutig sind die Kräfteverhältnisse zwischen dem "Aggressor" Eritrea, der angeblich Äthiopien bedroht und dem "angegriffenen" Äthiopien.

Samstag, 6. Juni 1998
In Windeseile hat sich die Nachricht vom Krieg unter den eritreischen Flüchtlingen in der Schweiz ausgebreitet. Am Samstag um 17.00 h versammeln sie sich im Restaurant St. Jakob in Zürich. Ich habe seit Jahren nicht mehr so viele Eritreer versammelt gesehen. Die Eritreerinnen und Eritreer beschließen, ungefähr einen Monatslohn für den "Fund for National Defence" zu spenden. Die Sorge ist groß, dass wiederum Familienangehörige verletzt oder getötet werden.

In den folgenden Tagen nehmen die Kämpfe entlang der Grenze in Badme, Zalambessa (auf der Straße von Senafe nach Adigrat) und später auch bei Assab zu, wo die äthiopischen Afars unter Sultan Ali Mirah in den Kampf gegen die eritreischen Afars geschickt werden. Äthiopien droht, jedes Flugzeug und jedes Schiff abzuschießen, das Asmara anfliegt oder Massawa und Assab anläuft. Das ist im Klartext die Blockade des souveränen Staates Eritrea zur Luft und zur See durch das "angegriffene Äthiopien" für die Eritreer ist es die Kriegserklärung an ihr Land.

Sonntag, 21. Juni 1998
Die Medien berichten über eine Rede, die der äthiopische Vize-Außenminister, Dr. Tekeda Alemu am 14. Juni in Washington gehalten hat. Er bezeichnet darin den eritreischen Präsidenten als Saddam Hussein und kündigt an: "der Hafen von Assab wird in den nächsten Tagen in unsere Hände fallen".

Mittwoch, 24. Juni 1998
Die äthiopische Regierung erklärt, dass sie ihre großen Ressourcen dazu benutzen wolle, "in einem langdauernden Krieg den Eritreern eine Lektion zu erteilen".

Die angekündete Lektion richtet sich zunächst gegen Wehrlose: Tausende von seit Jahren in Äthiopien lebenden Eritreern werden zusammengetrieben, auf Lastwagen und in Busse gepfercht und nach Eritrea deportiert. Augenzeugen berichten von Horrorzuständen während der Deportation: die zwangsdeportierten Eritreerinnen und Eritreer, häufig ältere Leute, leiden auf der langen, schwierigen Reise über schlechte Strassen unter Durst und Hunger. Junge Eritreerinnen und Eritreer werden in Lagern zusammengetrieben und festgehalten, darunter sind eritreische Austauschstudenten an der Universität von Addis Abeba. Familien werden auseinandergerissen, ihr Eigentum konfisziert. Von der Konfiszierung betroffen sind fast alle wohlhabenden und zum Teil seit Generationen in Äthiopien lebenden Eritreer (die meisten Tankstellen in Äthiopien sind von diesen Familien betrieben worden).

Freitag, 26. Juni 1998
Der Sicherheitsrat der UNO beschließt eine Resolution zum Konflikt, in der er die Anwendung von Gewalt verurteilt und unter anderem technisch-kartographische Hilfe bei der Demarkation der Grenze anbietet. Der UNO-Sicherheitsrat ruft die Parteien auf, das gegenseitige Vertrauen wieder aufzubauen und vor allem die Rechte und die Sicherheit der Angehörigen des andern Staates im eigenen Land zu garantieren.

Sonntag, 28. Juni 1998
Die Fußball-WM verdrängt alle anderen Themen und Probleme dieser Welt und gibt Zeit, uns zwischen den Spielen Gedanken zu machen über (Fußball)-Nationen, Nationalismus in Europa und am Horn von Afrika.

Freitag, 3. Juli 1998
Am Nachmittag findet in Genf eine Manifestation für den Frieden statt, organisiert von der eritreischen Gemeinschaft in der Schweiz. Die Eritreerinnen und Eritreer in der Schweiz machen sich große Sorgen über den Krieg und bitten die UNO, ihre guten Dienste und ihre Experten für die klare Demarkierung der Grenzen zur Verfügung zu stellen und sie rufen die äthiopische Regierung auf, die Menschenrechte der in Äthiopien lebenden Eritreer zu respektieren.

Dienstag, 14. Juli 1998
Die Lufthansa fliegt wieder nach Asmara, seit 2 Wochen schweigen die Waffen. Sehr rasch sind alle Flüge bis Ende August ausgebucht. Das Leben in Eritrea geht weiter. Kaleab berichtet uns aus Mendefera, dass die SUKE-Projekte realisiert werden, dass es nur wenig Verzögerungen gibt. Die Koreaner sind wieder nach Massawa zurückgekehrt, die deutsche Botschaft in Asmara hat ihre Arbeit wieder aufgenommen.